Zähmung von "Wildlingen"

Der Wildling

von Marianne Stransky

Ich möchte von dem draußen, in Scheunen, Schuppen, Wiesen geborenen Katzen, den sogenannten Wildlingen berichten.

Mehr als einmal mit ihnen konfrontiert, stand ich vor dem Problem:
"Kann ich solche Tiere zähmen - und wenn ja - wie?"
Mit zwei Arten der Zähmung habe ich selbst gute Erfahrungen gemacht. Zum einen gibt es die Methode: ''Lange, lange muß man warten.'' Zum anderen die Methode: ''Halb zog man sie, halb sank sie hin.'' Die ganz zwanglose Eingewöhnung ist nur da möglich, wo Raum und Zeit gegeben ist, es in Ruhe und ohne Gefahr für das Tier zu vollziehen.

Auf diesem Weg bin ich vor einigen Jahren zu meiner ''Pussy'' gekommen. Mir war bekannt, dass in weiterer Nachbarschaft eine Katze gefüttert wurde. Planmäßig spazierte sie jeden morgen zu ihrem Futterplatz. Mit ihr erschienen dann eines Tages auch noch fünf Jungtiere. Doch diese ''Katzenfamilie'' wurde grausam zerstört. Zwei von ihnen wurden überfahren, durch Krankheit starben weitere zwei. Auch das Muttertier lag eines Tages, nicht weit von unserem Haus entfernt, mit zerbrochenen Gliedern auf der Straße und war tot.

Mein Versuch, das übriggebliebene Tier einzufangen, scheiterte, weil zu jener Zeit noch keine Fallen zur Verfügung standen. Selbst mit dicken Handschuhen bewaffnet gelang es mir nicht, das wütend beißende Tier zu halten. Nun spazierte sie in den gefährlichen Fußstapfen ihrer Mutter zum Futterplatz.

Eines Tages jedoch wurde ihre Bleibe, eine alte Scheune, abgerissen. Seit jener Nacht saß sie auf meinem Gartentisch. Es war Winter - und so bekam sie eine warm ausgepolsterte Katzenhöhle, die sie gerne annahm. Pünktlich zwischen 22.00 und 5.00 Uhr schlief sie darin. Jetzt hatte ich auch die Gelegenheit, ihr Futter anzubieten. Jedoch nahm sie nur in der Nacht davon. Fleischbrocken wurden mit Lockrufen weit in den Garten hinausgeworfen. Scheu haschte sie danach, nahm sie und versteckte sich unter Sträuchern, um sie zu verzehren. In immer geringerer Entfernung warf ich die Fleischstücke, bis unser scheuer Gast sie nach einiger Zeit aus der Hand entgegennahm. Später mußte sie sich ihre Fleischstücke bei mir im Wohnzimmer zwischen meinen Hunden holen. Angst hatte sie dabei keine! Ein Trick, sie mit meinem Geruch vertraut zu machen, bestand darin, dass ich die Fleischstücke fest in meiner Hand hielt. Sie mußte meine Hand erst mit dem Schnäuzchen und den Pfoten bearbeiten, um an ihre Ration zu gelangen.

Im Sommer erst konnte ich sie mit ihren inzwischen geworfenen Jungen in die Waschküche locken. Für mich stand fest: ein Drama, wie das letzte Mal, darf sich nicht wiederholen. Die jungen Kätzchen fühlten sich in dem neuen Domizil sehr wohl und ließen sich gerne von mir streicheln. Erst für kurze, dann für längere Zeit schloß ich die Türe, wenn ''Pussy'' bei ihren Jungen war. Ganz langsam schwand die Angst vor dem geschlossenen Raum. Jedoch auch noch nach einigen Jahren war es so, als müsse sie sich jedesmal überwinden, die Türschwelle zu überschreiten. Immer mußte ich sie mit meiner vertrauten Stimme hereinlocken, anderenfalls blieb sie lieber draußen, selbst in der Kälte. Es brauchte Jahre, bis sie auch den anderen Familienmitgliedern vertraute.

''Pussy'' ist mir und meiner Familie gegenüber ein zutrauliches Tier geworden, das auf Rufen hin in die Wohnung zurückkommt. Schnurrend und schmusend sitzt sie gerne auf dem Sessel, fest an meinen oder meines Mannes Nacken geschmiegt. Nur wenn fremde Leute sich in unserer Wohnung aufhalten, bricht ihr Mißtrauen erneut auf und ein Kampf zwischen Vertrauen und Angst muß erst ausgefochten werden, bis sie dann doch der vertrauten Stimme folgt und dann ein Leckerchen in Empfang nehmen kann. Nur ''Auserwählte'' genießen das Glück, von ihr begrüßt zu werden. Glücklich war ich, als nach einem weiteren Jahr der Zähmung sich meine ''Pussy'' auf den Arm nehmen ließ, um ihr Köpfchen an meiner Backe zu reiben.

"Zähmung mit sanfter Gewalt"

Auf diese Weise ist es mir gelungen, in einem Jahr 26 Wildlinge zu zähmen. Alle Tiere waren noch in einem relativ jungen Alter, von fünf Wochen bis zu einem halben Jahr.

Die Kleinen sind nur in den ersten zwei Tagen beim Anfassen aggressiv; dann haben sie schon begriffen, dass ihnen nichts Böses geschieht. Ganz wichtig ist es, dass sie keine Möglichkeit finden, sich zu verkriechen. Sie müssen immer schnell mit den Händen zu ergreifen sein, damit man ihnen Leckerbissen reichen und sie zärtlich streicheln kann. Wildlinge benötigen unendlich viele Streicheleinheiten, das bedeutet viel, viel Zeit, Ruhe und Geduld. Wer das nicht hat, der sollte den Versuch der Zähmung unterlassen.

Die zweite Stufe der Zähmung ist das ''Sich-gewöhnen'' an das Leben in der Wohnung. Das ist eine besonders anstrengende Arbeit. Ist zunächst einmal die Angst vor den Personen genommen, so gilt es nun, sie an Geräusche, wie Radio, Fernseher, Haushaltsgeräte, wie auch an Artgenossen, Hunde u.s.w. zu gewöhnen. Wildlinge sind besonders schreckhaft, ihr Gehör besonders fein. Bei den kleinsten Gelegenheiten geraten sie in Panikstimmung. Jetzt den kleinen Wildling schnell in den schützenden Arm nehmen und das Geräusch wiederholen. Er muß merken, dass ihm dabei nichts geschieht. Oft sind die kleinen Wildlinge nach einem Schreck spurlos verschwunden, und ich wunderte mich später nicht mehr, wenn selbst in der Besteckschublade eine Mieze saß. Oft erklang dann auch aus den unmöglichsten Stellen heraus ein klägliches Miauen, und ich war glücklich, wenn ich den Ausreißer wieder in die Arme schließen konnte.

Besonders schwierig, aber auch für mich unwahrscheinlich reizvoll ist immer wieder die Zähmung von den älteren Wildlingstieren. Was für die ''Katzenbabys'' gilt, das gilt in ganz besonderem Maße für die Halbwüchsigen. Die Unterbringung soll so sein, dass sie genügend Bewegungsfreiheit, jedoch keine Möglichkeit haben, aus unserer Reichweite zu flüchten. Ein Korb oder ein ihnen Schutz gewährender Karton, Katzentoilette und Futternapf genügen. In den ersten zwei Tagen ist es fast immer nur möglich, sie mit festen Schweißerhandschuhen aufzunehmen. Spüren diese Tiere jedoch die Liebe, die man ihnen unvoreingenommen entgegenbringt, dann erlebt man die reinsten Wunder.

Können Sie sich vorstellen, dass ein noch nie von Menschenhand berührtes Tier schon am zweiten Tag sein Köpfchen an ihren Hals drückt, mit den Pfoten knetet - und leise schnurrt! Zur Verständigung auf Katzenart reibe ich meinen Kopf an der Mieze - selbst auf das Risiko hin, dass die Katze aus Angst "zuschlägt''. Ich habe es nicht geglaubt - und es nur durch Erfahrung erlebt - wie wichtig gerade diese Verständigung ist, um dem Wildling in seiner Sprache klar zu machen, dass wir ihn mögen.

Die Hauskatze ist schon seit ihrer Geburt mit den Menschen verbunden und lernt seine Gesten und Gebärden kennen und deuten. Beim Wildling ist es anders. Hier müssen wir uns zu ihm neigen und in seiner "Katzensprache" zu ihm ''sprechen". Er vermag es nicht, uns in so kurzer Zeit verstehen zu lernen; also müssen WIR die Initiative ergreifen. Es ist ein ganz sonderbares Gefühl, wenn dieses bisher so scheue und mit einer Katzenfalle gefangene Tier mit zarter Zunge mir über die Wange fährt, buchstäblich um Liebe und Zuneigung bettelt. Die Wildlinge, diese zum Teil gejagten und mißhandelten Tiere, sehnen sich nach Zärtlichkeit!

Ich muß betonen, dass nur wir es sind, die die Schranken der Angst bei der Katze, dem Wildling, durchbrechen müssen - auch wenn er faucht und sich wehrt. Es liegt ganz in unserer Hand, ob er sich wohl und geborgen fühlt und in der Lage ist, seine Zuneigung uns ohne Scheu entgegenzubringen. Der Wildling entwickelt sich sehr oft zu einer ''Ein-Personen-Katze''. Er wird nie ein ''Allerweltstier'' werden, sich vor Fremden zurückziehen, aber in großer Zärtlichkeit an seinem Besitzer hängen.

Es gibt noch etwas, was ich bei diesen Tieren ganz besonders liebe: die scharfe Beobachtungsgabe, das wache Mienenspiel und die hohe Intelligenz. Sie - aber auch die Generationen davor - konnten nur durch Gewandtheit, Klugheit und Vorsicht überleben. Gerade das ist es, was diese Tiere so reizvoll für einen echten Katzenkenner macht. Ein unvergleichliches Erlebnis für den, der sie mit "Katzenverstand'' und Einfühlungsvermögen erobert!

Es müssen aber nicht unbedingt Menschen sein, an die die Mieze ihr Herz verliert. Ich kenne einen Fall, in dem ein gut sieben Monate alter Wildlingskater innige Freundschaft mit einem schwierigen Burmakater, der alle anderen Katzen ablehnte, schloß. Der Besitzer erzählte stolz: ''Sie sind beide ein Herz und eine Seele, einer begleitet den anderen - gleich einem Schatten.''

Vor ein sehr hartes Problem stellte mich mein Wildling ''Natan''. Ich halte ihn für den klügsten und stolzesten Kater, der durch meine Hände ging. Nie hat er vergessen, dass ich ihn gefangen hatte. Er war das einzige Tier, das mich haßte und sich stets weigerte, ein Leckerli von mir zu nehmen. Meine Werbung um seine Zuneigung wurde von ihm mit Verachtung vergolten. Mit Fauchen und Knurren beantwortete er meine guten Worte. Nur meine jüngste Tochter, unserem Hund und Kater schloß er sich an. Lange Zeit, vier Monate, verbrachte er in unserem Haus. Ich war verzweifelt, weil es keiner mit ihm wagen wollte. Alle meine Zähmungsversuche schlugen bei ihm fehl. Ich war es ja, die Wurmpaste ins Mäulchen spritzte, Salbe in die Augen gab und Flohpulver ihm ins Fell streute. Er hielt mich wahrscheinlich für einen ''Kriminellen'', der ihm nach dem Leben trachtete. Überglücklich war ich, als eine Bekannte von mir sich für diesen Kater, meinen ''Natan'', interessierte.

Das Wunder geschah mit dem neuen Besitzer. Schon am zweiten Tag sprang der Kater der fünfzehnjährigen Tochter auf den Schoß, kuschelte sich mit in ihr Bett und wartete am Fenster auf ihre Rückkehr aus der Schule. Dann wurde sie von ihm freudig begrüßt. Er begleitete Frauchen durch das ganze Haus, kommt auf Pfeifen und ließ sich sogar mit dem Föhn ohne "Widerspruch'' sein Fell trocknen, als er in die Badewanne gefallen war. Er ist der Stolz und Liebling der Familie geworden.

Diese Beispiele sollen zeigen, dass es sich wirklich lohnt, diesen armen Wildlingen sein Herz zu schenken!

Anmerkung von der Koblenzer Katzenhilfe:

Wildlinge können auch gezähmt werden mit viel Geduld, in dem man mit ihnen an ihrem Futterplatz viel spricht und erzählt, oder man nutzt für sich die Zeit und liest laut die Zeitung/Buch. Nimmt man eine Katze aus einer anderen Umgebung auf, sollte sie die ersten 4-6 Wochen nicht nach draußen. Ältere Wildlinge haben meistens kein Verlangen nach draußen.